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Iona – die Lebenswelle surfen

„Was soll das alles, was tue ich hier“, denke ich. Zwei anstrengende Reisetage liegen hinter mir. „Eigentlich reicht es mir jetzt schon“, denke ich weiter und setze den ersten Schritt auf die Insel. Iona. Einst haben hier Druiden die Sonne angebetet, nach ihnen christliche Männer das geistige Zentrum der Keltischen Kirche begründet. Schottische, irische und norwegische Könige wurden auf Iona feierlich bestattet. Sogar der Shakespeare-berühmte Macbeth soll unter ihnen sein. Es ist ein spiritueller, ein machtvoller Ort. Doch statt ehrfürchtiger Freude spüre ich den schweren Rucksack und das unbändige Bedürfnis, endlich wieder allein zu sein.


Seit zwei Tagen bin ich unterwegs mit einer Gruppe von Kollegen, die ich gerne mag. Eigentlich. Ich habe mich auf unsere gemeinsame Reise auf die Hebrideninsel gefreut: Mit dem Flugzeug nach Amsterdam, weiter nach Glasgow ging es und mit dem Zug nach Oban, einem romantisch anmutenden Hafenstädtchen. Von dort aus mit der Fähre nach Craignure auf der Insel Mull, und dem Bus zum süd-westlichsten Mull-Zipfel, dem Fähranleger Fionnphort, endlich weiter nach Port Rònain, dem Hafen von Baile Mòr, der „Hauptstadt“ von Iona – rund 20 Häuser und ein paar Läden. Selten habe ich so viel gesessen und gewartet: in Flughäfen, im Flugzeug, im Bus, am Fähranleger, auf der Fähre. Und überall Menschen. Keine Möglichkeit, allein zu sein. Nicht einmal im Hotelzimmer. Und auf Iona werde ich mich heute Nacht auch in einem Mehrbettzimmer schlafen legen. Als ich diese Reise zur „Selbsterfahrung“ antrat, hatte ich mir das anders vorgestellt – irgendwie privater. Ich bin genervt. 

Selbsterfahrung auf knapp neun Quadratkilometern


Alles in mir schreit nach Bewegung und Ruhe – bis Misses Tindal mich erlöst. Unsere Herbergsmutter wartet mit Mann und Hund am Anleger. Ob sie uns das Gepäck abnehmen können? Breites Lächeln. „Oh, yes please!“ Ob jemand mitfahren möchte bis zu den beiden Häuschen, in denen wir die kommenden Tage verbringen wollen? „Oh, no thank you!“ Wir wollen doch lieber gehen. Gern allein und ohne miteinander zu reden. Ich lasse mich zurückfallen, fühle mich verstanden, atme auf, genieße die Ankunft.

Iona liegt in warmem Abendlicht. Ein knapp neun Quadratkilometer großes Stück Land inmitten von atlantischen Wassermassen. Hier wohnen weitaus mehr Schafe als Menschen. Etwa 150 Insulaner führen ein karges Leben. Sie haben nicht einmal eine Kneipe; nur das wirklich gute Restaurant im Argyll-Hotel, aber das ist eher ein Ort für Touristen.


Fehlende Unterhaltung ist gefährlich. Vor ein paar Jahren kenterte ein Ruderboot, voll besetzt mit jungen Männern, die sich auf den Weg zu einer Tanzveranstaltung auf der großen Nachbarinsel Mull gemacht hatten. Es war nicht das erste Mal, dass sie so unterwegs waren, aber an diesem Tag erwischte eine riesige Welle ihre kleine Nussschale und spülte die gut gelaunten Passagiere ins Meer. Vier ertranken in der tückischen Strömung. Der Schock sitzt tief auf Iona, noch heute.


"Neue Wege finden" ist Programm auf Iona


Ich folge dem sanft ansteigenden Weg, an einem kleinen Sparmarkt vorbei direkt durch die Ruinen des alten Nonnenklosters. Eine Katze schnurrt gemütlich über die gut erhaltene Steinbank im einstigen „chapter house“. In mir formen sich Bilder frommer Frauen aus längst vergangenen Tagen, wie sie hier zusammensaßen, sich aus der Bibel vorlasen und Rat hielten. Sehr alte Skelette haben Archäologen auf dem Gelände der alten „nunnery“ gefunden. Vielleich hat es die frommen Frauen schon gegeben, bevor im sechsten Jahrhundert der sagenhafte Columban auf der Insel landete und seine Abbey begründete, die berühmte Iona Abbey.


Von hier aus zogen Mönche in die Welt, den Ungläubigen das Christentum zu lehren. Wer auf Iona blieb, bekam es mit furchtbaren Überfällen zu tun. Drei Beutezüge der Wikinger überstand Columbans Gemeinschaft. Wieder und wieder bauten die Männer brutal zerstörte Gebäude auf, bis ins 11. Jahrhundert hinein. Danach nagte der Zahn der Zeit an dem in Furcht vor neuen Raubzügen verlassenen Gemäuer – bis zweihundert Jahren später mutige Benediktiner eine mächtige Abtei errichteten.

Ich sehe diese Abtei, wie sie damals vielleicht ausgesehen haben mag, als ich dem Weg folge, weiter hinauf. Frisch renoviert und ordentlich ducken sich Häuser und Türme in den hügeligen Küstenstreifen. Malerisch sieht das aus in der rotgoldenen Abendsonne. Wie es hier wohl früher war, noch bevor die Katholiken kamen? Und wie sah es nach der Reformation aus, als das alte, wieder einmal verlassene Gemäuer zerfiel? Was war, bevor die 1938 gegründete überkonfessionelle „Iona Community“ das alte Kloster wieder aufbaute? „Neue Wege zu finden, die Herzen aller zu erreichen“, das hat sich die moderne Christen-Gemeinschaft zum Ziel gesetzt. So ist Iona in der Neuzeit wieder zum Ausgangspunkt einer sich verbreitenden christlichen Gemeinschaft geworden. In Schottland, England, Wales, Deutschland und der Schweiz, sogar in fernen Ländern wie in den USA, Australien, Kanada, Südafrika und in Malaysia leben ihre Anhänger und Freunde. „Und viele von ihnen bringen Geld mit“, denke ich wenig christlich, als ich den Souvenirladen gegenüber der Abbey passiere. Gegen ein geringes Entgelt dürfe man sich die Gebäude anschauen, steht da. Wer eine Dauerkarte für mehrere Tage löst, bekommt den Besuch bei Gott günstiger. Mir gefällt das nicht. Gott gegen Geld. „Gott ist überall“, denke ich und hier auf Iona erst recht.



Ausgetretene Pfade in heilsamer Natur


Es zieht mich nicht in die Abbey am nächsten Morgen. Gemeinsam mit den Kollegen begebe ich mich auf Spurensuche. Alle zusammen ziehen wir los zur „Bucht des Columban“ – und folgen ausgetretenen Pfaden. Natürlich, der Mann ist hier eine Berühmtheit und viele Besucher wollen die Stelle sehen, an der er angeblich vor rund 1500 Jahren die Insel betrat. Wir absolvieren das alltägliche Besucherprogramm und doch spüre ich den ersten Hauch von – ja, was ist das, was ich erlebe, während ich hinter den anderen her über schmale, erdige Pfade trotte? An der Küste entlang, über einen Golfplatz – wer spielt denn hier in dieser stürmischen Einsamkeit Golf? – vorbei an vielen Schafen, deren Lämmer verblüffend hoch hüpfen und dabei freudig blöken. Mit jedem Schritt, den ich gehe, und jedem Stück Natur, das ich sehe, steigen Bilder in mir auf, wecken die Gerüche des Meeres, von Heidelandschaft, Salz und Strand verschüttete Gefühle. Und plötzlich taucht das Gesicht meiner verstorbenen Mutter vor mir auf. Strandtage, das waren Familientage, damals, als ich noch klein war.


In der kieseligen Bucht von Columban hat jemand ein Steinlabyrinth gelegt. Steinfiguren gibt es überall auf Iona. Ich gehe daran vorbei, blicke auf Meer und Strand und versuche, mich in die Lage eines Verstoßenen einzufühlen, der mit zwölf verbliebenen Getreuen auf dieser Insel landet. Ob hier Menschen leben? Was die Zukunft bringt? Und dann sehe ich das Licht. Es hält mich ganz und gar gefangen. Tatsächlich: Da hüpft ein einzelner Lichtstrahl über die Wellen, bewegt sich ein kleines bisschen in Richtung Meer und ist noch eine ganze Zeit zu sehen; dieser einzelne Strahl. Als ich später die anderen frage, ob sie ihn auch gesehen haben, herrscht ratloses Kopfschütteln. Mein Wunder von Iona. In der Nacht träume ich von meiner Mutter.



Begegnung mit dem Tod


Sie ist an Krebs gestorben, meine Mutter, und in meinen Träumen tut sie es wieder und wieder und wieder hier auf der Heiligen Insel. In unserer Familie ist bisher jeder an Krebs gestorben, der gestorben ist: Darm, Gebärmutter, Brust, Eierstock, Lunge, Bauchspeicheldrüse. Früher hat mir das so viel Angst gemacht, dass ich im gesamten Freundeskreis als Hypochonder verschrien war. Irgendwann habe ich die Angst verdrängt. Es muss ja weitergehen, das Leben. Es geht ja immer weiter. Aber jetzt ist sie wieder da. Guckt mich an mit ihrer dunklen Fratz: „Na“, fragt sie und grinst. „Na, was machste jetzt mit mir?“ Ich weiß es nicht. Als ich tags drauf in einer anderen Bucht voll großer runder Kiesel sitze und gedankenverloren einen Stein zur Hand nehme, zeigt der zwei schwarze runde Flecken. „Tumoren“, denke ich und lasse ihn fallen, als läge er brennend heiß in meiner Hand. Ich überwinde mich, schaue noch einmal hin. Tatsächlich – der helle Stein trägt zwei schwarze Flecken. Mehr nicht. „Schau mal, was ich eben gefunden habe, den möchte ich Dir schenken.“ Eine freundliche Hand streckt mir ein weiches, warmes, rundes Steinchen mit hellgrünen Einschlüssen entgegen. „Schön“, denke ich. „Grün ist eine heilende Farbe, die Farbe von Hoffnung und Wahrheit.“ Beinahe muss ich weinen vor Erleichterung. Ich stecke es in meine Hosentasche – trage es noch lange bei mir.


„Was ist Angst? Was willst Du von mir?“ frage ich, als ich am nächsten Tag den Norden der Insel auf eigene Faust erkunde. Außer meiner warmen Segeljacke habe ich einen Reitregenmantel dabei. In dem riesigen dunklen Cape unter der Kapuze sehe ich selbst aus wie der Tod, mit dem ich ringe. Geboren werden, leben, sterben. Im Großen wie im Kleinen. Ständig an der Schwelle von etwas Neuem. Wer traut sich schon, Altes, angeblich Sicheres loszulassen? Wie lange habe ich als Rechtsanwältin gearbeitet, obwohl ich vor Anstrengung nichts essen konnte? Wie war das später als Redakteurin im Medienbüro? Irgendwann versagte der Rücken. Ich trug ein Korsett. Mit Stromstößen bekämpfte es Schmerzen, die sich noch gegen tägliche Betäubungs-Infusionen behaupten konnten. Zu stehen war nicht möglich, denken kaum und trotzdem habe ich gearbeitet, konnte nicht loslassen, was mir doch so offensichtlich nicht guttat. Ich landete in einer Klinik, lernte endlich, mich zu entspannen, wehrte mich dagegen, dachte, nun bekäme ich zu allem Übel auch noch eine Grippe. Dabei war es nur die angenehme Schwere des Nichtstuns, des einfach nur Da-Seins, die den Schmerz mit sich nahm und Raum für eine neue Erkenntnis machte: Es geht tatsächlich weiter, das Leben. Auch ohne den Job.



Endlich Entspannung


Diese entspannende Schwere senkt sich auf mich, als ich auf meinem großen, ausgebreiteten Wachsmantel liege und in den Himmel schaue. Weit oben auf einem Hügel liege ich. Nach stundenlangem Auf und Ab durchs modderige Gelände, an Steinwällen entlang, über Zäune, erstaunte Schafe freundlich grüßend, spüre ich meine Beine. Morgen wird es Muskelkater geben. Schön, wenn der Körper etwas zu tun bekommt. Unterwegs habe ich nicht viel gedacht. Ich war zu sehr damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Stellen zu finden, in denen ich nicht hoffnungslos im Matsch versinken würde, in den Himmel zu schauen – Wird es Regen geben? – und nach einem geeigneten Picknickplatz Ausschau zu halten. Wer mag wohl vor mir schon hier gesessen haben? Volle vier Stunden lang war ich unterwegs und habe keinen einzigen Menschen gesehen. Auch jetzt entdecke ich in der weiten Ebene unten niemanden, als ich mich aufsetze und ins Käsebrot beiße.


Also: Was willst Du von mir, Angst? Wovor willst Du mich warnen? Was soll dieser Schrecken einer tödlichen Krankheit, der Schrecken des Todes, was macht der hier? Ich kaue und kaue und komme nicht drauf. Abends fällt mir im Gemeinschaftsraum ein Buch in die Hände, darin die Antwort: „Wer sich dem Leben gelassen hingibt, verliert seine Angst.“ Mit der Welle surfen, ihrer Kraft vertrauen, nicht gegen die Wassermassen kämpfen. Das kenn ich. „Das kann ich“, denke ich und schlafe ein. Tief und fest schlafe ich ein in dem schmalen Bett, neben den anderen.



Die Lebenswelle surfen


Ich habe Iona mit nach Hause genommen, mit in mein Leben. Am letzten Tag hat mir die Insel zum Abschied einen Stein geschenkt. Auf seiner glitzernden Oberfläche trägt er selbst eine kleine Insel. Sie erinnert mich daran, dass die Angst vergeht, wenn ich auf meiner Lebenswelle surfe, ihre Kraft nutze, mich tragen lasse. Ich weiß: Sie wird schwächer werden, sich verlaufen, irgendwann zurück ins Meer fließen. Das habe ich nicht in der Hand. Aber bis dahin lebe ich zwischen Gischt und Luft, Sonnenschein und Sand – in den Tod hinein.


erste Veröffentlichung: Paradiso, 2015

weitere Veröffentlichungen hier


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